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Das Herz des Radsports in Italien (21.10.23)

In Italien gibt es überall Orte, die mit dem Radsport verbunden sind: Großartige Pässe mit reicher Giro d'Italia-Geschichte, Gedenksteine und Monumente auf Pässen und anderswo (über die gibt's sogar ein ganzes Buch), Museen (vermutlich mehr als in jedem anderen Land), berühmte Zielankünfte wie die Via Roma (Sanremo) oder die Piazza del Campo (Siena) und sogar die "berühmteste Telefonzelle der Radsportwelt".

Aber für den Autor dieser Website gibt es nur einen Ort, der wirklich das Herz der Radsport-Nation Italien bildet, weil sich hier alles perfekt ergänzt: Eine großartige Landschaft mit einem von Bergen umrahmten malerischen See, ein anspruchsvoller Anstieg mit über hundertjähriger Renngeschichte, eines der besten Radsportmuseen Italiens – und, vor allem, ein einzigartiges Symbol für die unvergleichliche Passion, mit der der Radsport im "Belpaese" gelebt wird: Die Kapelle der Madonna del Ghisallo, die für gläubige Menschen noch mehr ist: ein heiliger Ort.

 

Das anspruchsvollste "Monument"

Vor 14 Tagen läuteten die Glocken von Ghisallo wieder einmal während eines Radrennens, als die Profis bei IL Lombardia auf dem Weg von Como nach Bergamo den Anstieg befuhren, diesmal von Asso aus, als Auftakt von heuer 239 Kilometern mit über 4.400 Höhenmetern! Auch am 2. November 1919, als der Anstieg zur Madonna del Ghisallo erstmals vom Giro di Lombardia (wie das seit 1905 ausgetragene Rennen bis 2011 hieß) befahren wurde, kamen die Fahrer von Süden.

Diese Seite ist eigentlich die leichtere, aber zur damaligen Zeit war die Naturstraße noch nicht geteert und der Anstieg so schwer und selektiv, dass nach 256 km nur acht von 44 gestarteten Fahrern das Ziel in Mailand erreichten – der letzte erst dreieinhalb Stunden nach dem überragenden Sieger Costante Girardengo, dem ersten "Campionissimo" Italiens, der u.a. zweimal den Giro d'Italia und sechsmal Milano-Sanremo gewann – sowie dreimal den Giro di Lombardia!

Die Veranstalter der Gazzetta dello Sport hatten ihr Ziel erreicht, das letzte große Rennen der Saison mit einer neuen Herausforderung anspruchsvoller zu gestalten. Später kamen beim Rennen der fallenden Blätter" andere, noch schwierigere Anstiege hinzu, wie "Superghisallo", Civiglio oder von 1960 bis 1962 die extrem steile Muro di Sormano, die nach Protesten und einer langen Pause erst ab 2012 wieder ins Programm kam und heute der wohl schwierigste Anstieg bei den klassischen Eintagesrennen ist (zuletzt 2020 befahren).

Im Vergleich mit anderen Monumenten und Klassikern ist IL Lombardia traditionell am anspruchsvollsten. Biagio Cavanna, Entdecker, Trainer und Masseur von Lombardia-Rekordsieger Fausto Coppi, bezeichnete das Rennen gar als "die echte Weltmeisterschaft", weil hier, am Ende einer anstrengenden Saison, auf einem sehr anspruchsvollen Kurs, nur die stärksten und härtesten Fahrer gewannen. Tatsächlich findet man in den Palmarès von IL Lombardia (fast) nur große Namen. Die illustre Sieger-Liste, die schöne Landschaft und der hohe Anspruch, der Kletterer bevorzugt, machten den Giro di Lombardia auch zum Lieblings-Profirennen des Autors, trotz der Sympathie für die Strade Bianche.

2023 gewann Tadej Pogačar IL Lombardia – zum dritten Mal in Folge und mit einer Überlegenheit, die an Fausto Coppis Solo-Siege erinnert. Wenn er so weiter macht, wird der 25 Jahre junge Slowene in ein paar Jahren Coppis Rekord brechen.

Eine der Konstanten bei IL Lombardia ist: die Strecke ändert sich fast jedes Jahr, die Start- und Zielorte wechseln immer wieder. Heuer endete der Herbstklassiker wieder einmal in Bergamo, das Finale mit den steilen Rampen durch die Altstadt und der Zielgeraden in der Unterstadt war identisch mit den jüngsten Zielankünften, wie auch mit der 19. Etappe des Giro d'Italia 2023.

 

Vom mittelalterlichen Gnadenbild zum Granfondo

Zurück zur Madonna del Ghisallo: Seit seiner Premiere 1919 hat dieser Anstieg nur dreimal im Profil des Giro di Lombardia gefehlt. Ghisallo ist die stabilste Konstante dieses Klassikers, auch wenn sich Details veränderten. Auf ganz alten Bildern ist zu sehen, dass die Straße früher auf der Seeseite verlief und direkt am Portal der Kapelle vorbeiführte. Die heutige, gerade Rampe wurde 1929 gebaut, seither liegt die Kapelle in einem "verkehrsberuhigten Bereich", der inzwischen als Piazza mit Stelen und Denkmälern gestaltet ist. Wenn man dem Titelbild der Zeitschrift RennRad 09/2023 glauben darf, dann wurde der Glockenturm (dessen Vorgänger tatsächlich einmal auf der Seeseite der Kapelle stand) inzwischen abgerissen – es ist unglaublich, wie ignorant und rücksichtslos Fotos heutzutage von Bildredakteuren gefälscht werden!

Ein wichtiger Schritt zur heutigen Bedeutung der kleinen Kapelle war 1949 die "Beförderung" durch den Vatikan, siehe Spalte rechts. Genau 50 Jahre später wurde der Grundstein für das Museo del Ciclismo Madonna del Ghisallo gelegt. Einer der Initiatoren und die Identifikationsfigur des Projekts war der "Löwe von Flandern", Fiorenzo Magni (†2012), der "dritte Mann" neben Coppi und Bartali, der je dreimal den Giro d'Italia und die Ronde van Vlaanderen gewann. Das Museum wurde seit 1994 geplant, aber erst 2006 eröffnet, die Finanzierung war zeitweise unsicher.

Für den Autor, der sich bei manchem Besuch in Magreglio angesichts der jahrelangen Baustelle fragte, ob dieses Projekt je fertiggestellt werden würde, bietet dieses Museum eine ideale Kombination aus Inhalt und Konzept, Standort und Architektur. Hier gibt es auch beim wiederholten Besuch immer wieder Neues zu entdecken, die Exponate werden ab und zu ausgetauscht, es gibt wechselnde Sonderausstellungen verschiedener Größe und Thematik – und im Museumsladen findet man oft interessante Bücher, die man woanders nicht sieht.

Im Jahr der Museums-Eröffnung gab es auch eine andere Premiere: Im Rahmen der "Challenge Gazzetta" wurde der erste Gran Fondo Giro di Lombardia veranstaltet, dessen Nachfolger heute noch existiert. Neben diesem Granfondo gibt es auch noch zwei kleinere Veranstaltungen, bei denen man den Anstieg zur Madonna del Ghisallo befahren kann:

 

Gran Fondo Il Lombardia

> Am Tag (Sonntag) nach dem Profirennen (heuer am 08.10.2023),
109 km und 1.700 Hm, mgf-Härtegrad 4,4 [Mediofondo 111 km und 1.700 Hm]
Profil und mehr Informationen siehe Granfondo-Album 1.

Von 2006 bis 2008 veranstaltete RCS am Tag nach dem Profirennen auch den Gran Fondo Giro di Lombardia, damals Teil der Challenge Gazzetta war. Nach einer längeren Pause gibt es den Granfondo seit 2017 wieder. Während sich die Strecke des Profirennens jedes Jahr ändert, war die Strecke des Granfondos etwas stabiler. Bis 2018 lagen Start und Ziel in Como, seit 2019 etwas außerhalb, in Cantù. Die Strecke ist seit 2019 unverändert, zuerst geht's über die extrem steile Muro di Sormano (mit einer flacheren Ausweichmöglichkeit), danach von der klassischen Seite zur Madonna del Ghisallo.

Bis 2019 wuchs die Veranstaltung kontinuierlich auf das Niveau von 2008 (1.700 Starter), nach der Corona-Pause brach die Teilnehmerzahl ein und lag 2021 und 2022 bei jeweils nur rund 700. Heuer verdoppelte sich die Starterzahl wieder auf gut 1.500. Auch wenn die Veranstaltungen in Como für den Autor mehr Flair hatten, bleibt dieser Granfondo eine ideale Gelegenheit zum stilvollen Saisonabschluss, mit Besuch des Profirennens – und natürlich der Madonna del Ghisallo!

 

Randonnée “Olimpica e della Famiglia - Fondazione Fabio Casartelli - Don Guanella

> An einem Sonntag Mitte Juli (heuer am 16.07.2023), 
114 km, 2.280 Hm, mgf-Härtegrad 5,1 [Mittelstrecke 75,3 km, 1.160 Hm]

Die einer deutschen RTF vergleichbare Veranstaltung gibt es in dieser Form erst seit 2022. Bis 2021 veranstaltete die Fondazione Casartelli einen "Mediofondo", die Zeitnahme erfolgte nur an den Anstiegen zur Madonna del Ghisallo und Muro di Sormano. Die drei Standard-Strecken des früheren Mediofondos werden fast identisch auch bei der Randonnée befahren, nur jetzt eben ganz ohne Zeitnahme.

Auch ohne Zeitnahme sind die Anforderungen höher als beim Gran Fondo IL Lombardia – nicht nur durch die größere Zahl der Höhenmeter, sondern auch durch den geforderten Schnitt: Beim Granfondo kommt man noch mit 15,6 km/h in die Wertung, bei der Randonnée werden auf der anspruchsvolleren langen Runde 16,3 km/h gefordert. Auf der mittleren Runde (ohne Sormano, 13,7 km/h) und der kleinen Runde (58,5 km, 850 Hm, ohne Ghisallo, 13,5 km/h) hat man erheblich mehr Zeit. Wer es lieber länger und flacher mag, wird die Strecke "Rando XL" wählen, die auf die Muro di Sormano verzichtet, dafür auf 205 km mit 2.190 Hm (min. 17,1 km/h) einmal um den Comer See führt.

Alle Strecken führen über Albese con Cassano, den Heimatort von Fabio Casartelli, der 1992 Olympiagold im Straßenrennen gewann und 1995 bei der Tour de France tödlich verunglückte (sein Unfallrad hängt in der Kapelle von Ghisallo). Der Sonntag der Veranstaltung liegt immer nahe dem 18. Juli, Casartellis Todestag.

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Start und Ziel der Randonnée ist der Agriturismo Cascina Don Guanella in Valmadrera (nahe Lecco), der auch schon Namensgeber und Start/Ziel des Gran Fondo Don Guanella Cadel Evans (siehe unten) war. Dem Einfluss dieses Non-Profit-Unternehmens ist es offenbar zu verdanken, dass aus dem Mediofondo eine Randonnée ohne Zeitnahme wurde.

 

La Ghisallo - Ciclostorica d'Epocha

> An einem Wochenende Mitte/Ende Oktober (heuer am 22./23.10.2023), 
50 km, 1.013 Hm, mgf-Härtegrad 2,3

Bis 2019 fand diese Ausfahrt für historische Fahrräder meist im Juli statt, seit 2021 erst im Oktober – womit die Wahrscheinlichkeit für "historisch korrektes" Wetter stieg (der Giro di Lombardia fand früher erst im November statt und forderte den Teilnehmern wegen des dann meist schlechten Wetters noch mehr ab). Start der Ausfahrt am Sonntag ist auf dem Platz vor der Kapelle, bis 2022 war dort auch das Ziel, bei der 50 Kilometer kurzen Ausfahrt wurde die Südrampe hin/zurück befahren, außerdem auch einige kleinere Hügel.

Die klassische Nordseite von Bellagio nach Ghisallo wurde nur am Samstag für eine Zeitfahr-Staffette genutzt, auf der sich ein Team von drei oder sechs Fahrern und Fahrerinnen sechs Sektoren aufteilten. Der flachere Sektor in der zweiten Hälfte, zwischen Guello und Civenna, musste dabei mit einem Rad aus den 1930er Jahren (oder älter) absolviert werden! Und die Sieger erhielten speziell angefertigte Unikate: Wolltrikots nach historischem Vorbild!

Heuer hatte es lange so ausgesehen, als ob La Ghisallo gar nicht stattfinden würde. Auf der Website gab es keine Informationen, der letzte Eintrag auf der Facebook-Seite war vom 22.11.22 und auf der Website des Museums gab es, anders als in den Vorjahren, keine Ankündigung. Erst seit 10.10. ist klar, dass La Ghisallo 2023 stattfindet, wenn auch nur als "edizione speziale", im Gedenken an den vor 150 Jahren verstorbenen Schriftsteller Alessandro Manzoni (der in seiner Jugend in Lecco lebte, während des "Risorgimento" eine wichtige Rolle bei der sprachlichen Einigung Italiens spielte und dem Giuseppe Verdi sein "Requiem" widmete). Daher gibt es heuer am Samstag nur eine Buch-Präsentation, die auf rund 30 km gekürzte Ausfahrt am Sonntag führt nicht zurück zur Madonna, sondern endet mit einer Altstadtrunde und einem Mittagessen in Lecco.

2024 wird La Ghisallo hoffentlich zum bewährten Konzept zurückkehren. Mit der Samstags-Staffette als kleinem Wettbewerb und der Madonna del Ghisallo als eindeutigem Mittelpunkt hat diese Cicloturistica eindeutig mehr Flair.

 

Ein Blick zurück...

Der Anstieg zur Madonna del Ghisallo wurde früher auch von anderen, heute nicht mehr existierenden Veranstaltungen genutzt, die hier zum Abschluss noch kurz erwähnt werden sollen:


Mediofondo La Fabio Casartelli
: Diese Veranstaltung gab es von 1999 bis 2021, mit partieller Zeitnahme, 22-mal waren Start und Ziel in Casartellis Heimatort Albese con Cassano. 2022 wurde der Mediofondo durch die Randonnée “Olimpica e della Famiglia – Fondazione Fabio Casartelli – Don Guanella” abgelöst, die nahezu dieselben Strecken nutzt,
siehe oben.


Gran Fondo Don Guanella Cadel Evans
: Dieser Granfondo hatte 2017 Premiere und war möglicherweise der
Auslöser, dass im selben Jahr der Gran Fondo Il Lombardia wiederbelebt wurde. Die GS Alpi aus Sondrio, die u.a. auch den Gran Fondo Gavia e Mortirolo veranstaltet, änderte mehrfach die Streckenführung (zuletzt 110 km, ca. 2.000 Hm, mgf-Härtegrad 4,8). Nach drei Auflagen und der Corona-Pause 2020 wurde dieser Granfondo, dessen Erlöse komplett wohltätigen Zwecken zuflossen und an dem neben dem australischen Tour-de-France-Sieger auch immer andere prominente Ex-Rennfahrer teilnahmen, leider nicht mehr fortgeführt.


Vigorelli-Ghisallo
: Diese Veranstaltung ohne Zeitnahme fand fünfmal, von 2015 bis 2019, statt, sie verband die beiden wohl wichtigsten Orte in der Radsport-Geschichte der Lombardei: Das Ziel war die Madonna del Ghisallo, der Start erfolgt in Mailand, am 2016 restaurierten
Velodromo Vigorelli, das viele Jahre das Ziel des Giro di Lombardia war und unzählige Sternstunden des Radsports erlebte – darunter Coppis Stundenweltrekord von 1940! Nach der Corona-Krise wurde auch diese Ausfahrt zum Saisonabschluss (immer Mitte/Ende Oktober, zuletzt 90 km, ca. 1.000 Hm, mgf-Härtegrad 3,3 – plus Rückweg) leider nicht mehr fortgeführt.

 

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"Oh Madre del Signore Gesù, Ti preghiamo di volerci benignamente assistere e proteggere nelle nostro attività ciclistiche!..." – "Oh Mutter unseres Herrn Jesus, wir bitten Dich, uns gütig beistehen zu mögen und uns zu beschützen bei unserem radsportlichen Tun!..."

...so beginnt ein "offizielles Radfahrergebet", gerichtet an die Schutzbeauftragte der katholischen Kirche für die Interessen der Radfahrer. Seit 1949 ist die "Madonna del Ghisallo", der eine kleine Kirche hoch oberhalb des Comer Sees geweiht ist, die offizielle Schutzpatronin der Radfahrer.

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[Bild: Pfarrei Magreglio (CO), Italien]

Der Aufstieg des unscheinbaren Kirchleins in Magreglio zur wohl bedeutendsten Radler-Wallfahrtsstätte der Welt begann, als Don Ermelindo Viganò 1944 Pfarrer des abgelegenen Bergdorfs wurde. Magreglio liegt traditionell an der Strecke des Giro di Lombardia, der alljährlich die Klassiker-Saison beschließt.

Don Ermelindo war, wie es sich damals für einen anständigen Italiener gehörte, ein begeisterter Radsportanhänger – und ein guter Freund der Radsport-Legende Gino Bartali. Dem "radelnden Mönch" Bartali, der 1938 die Tour de France gewann und zehn Jahre später noch einmal, lag damals halb Italien zu Füßen. Die andere Hälfte hielt bekanntlich zu dessen jüngerem Gegenspieler Fausto Coppi. Nicht nur um die großen Duelle der beiden Giganten ranken sich zahllose Legenden. Der fromme "Gino nazionale" soll bei manchem Rennen für ein kurzes Gebet angehalten haben, wenn auf der Passhöhe ein Kreuz stand, und bei der Tour de France versäumte "il vecchio" ("der Alte") es in den Pyrenäen nie, der Muttergottes in Lourdes seine Referenz zu erweisen.

Bei einer solchen Vorgeschichte verwundert es nicht, daß Don Ermelindo Viganò und Gino Bartali schließlich 1948 Papst Pius XII. darum baten, er möge die Madonna des Kirchleins bei Magreglio doch zur Schutzpatronin der Radfahrer erklären. Die Petition, die auch die Unterschriften vieler berühmter Radrennfahrer (darunter Coppi und Magni) trug, erhielt 1949 den Segen des Heiligen Vaters und die Madonna del Ghisallo bekam ihren ganz speziellen "Zuständigkeitsbereich"!

Seither hat sich die kleine Kirche zum wohl weltweit bekanntesten Wallfahrtsort für Radsportler entwickelt. Im Gewölbe der Kapelle finden sich keine Deckengemälde, sondern die Rennmaschinen vieler berühmter Radrennfahrer, unter anderem die Räder, auf denen Bartali 1948 und Coppi 1949 die Tour de France gewannen und ein Stundenweltrekord-Rad Francesco Mosers. Die Wände des Gotteshauses sind übersät mit Trikots, Wimpeln, Plaketten und Dankestafeln. Nicht nur Rennfahrer-Legenden wie Eddy Merckx oder Miguel Indurain, sondern auch zahllose Amateure und Hobby-Radsportler sind überzeugt davon, dass die Madonna del Ghisallo manches Mal ihre schützende Hand über sie gehalten hat.

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(Das Trikot am Altar ist von Mario Cipollini, Weltmeister 2002)

Wer eine Pilgerreise zur Madonna del Ghisallo unternehmen möchte, sollte zumindest die letzten Kilometer von Bellagio am Comer See hinauf zur Kapelle in Magreglio stilecht auf dem Rennrad zurücklegen. Die 9,5 km lange Strecke mit zwei Anstiegen um insgesamt 550 Höhenmeter und Steigungen bis zu 14 % hat es durchaus in sich, wovon sich die Profis alljährlich beim Giro di Lombardia überzeugen können. Idealer Startpunkt für die Tour ist der ruhige Parkplatz am Friedhof von Bellagio (aus Richtung Como am Ortsanfang rechts ab beim Schild "Cimitero >"), die Anfahrtsroute zur Kapelle folgt dieser Straße bis zur Hauptstraße, dort rechts abbiegen und den Schildern Richtung Civenna / Erba / Ghisallo folgen.

Wer auf dem Rückweg etwas mehr Zeit hat, dem sei die Runde über die "Colma di Sormano" empfohlen (Masochisten können dabei die Muro di Sormano bezwingen). Eine äußerst reizvolle Erfahrung ist auch eine größere "Pilgerreise" zur Madonna del Ghisallo: 2004 legte der Verfasser mit einer kleinen Gruppe der CSG Lindau die komplette Strecke von Lindau nach Magreglio mit dem Rad und ohne Begleit-Fahrzeug zurück (auf der kürzesten Route, über den Splügenpass).

In der Kapelle haben die gestifteten Trikots und Räder natürlich längst keinen Platz mehr, Gerüchten zufolge wurden die wertvollsten Ausstellungsstücke in der Kapelle in neuerer Zeit sogar teilweise durch Kopien ersetzt. Falls das stimmt, sind die Originale im Safe, das nebenan 2006 eröffnete Museum war nicht der Grund. Denn dort wird eine Vielzahl anderer Stücke präsentiert, z.B. Bartalis mottenzerfressenes Original-Siegertrikot von der Tour 1938, incl. Startnummer! Dazu gibt es viele Räder und beeindruckende Fotografien, und die Entwicklung des Fahrrads und Radsports wird ziemlich umfassend dargestellt.

Im Gegensatz zum Museum ist der Besuch der Kapelle natürlich frei. Man kann höchstens ein wenig Kleingeld für Heiligenbilder und Postkarten ausgeben, am Wochenende verkauft ein Händler manchmal auch andere Devotionalien. Mit der Atmosphäre in der geschichtsträchtigen Kapelle kann das Museum nicht mithalten. Denjenigen, die den Weg zur Madonna del Ghisallo finden, wünscht der Verfasser dort dieselbe Ruhe zur Andacht, die er bei seinem ersten Besuch gefunden hat...

 

Der obige Text wurde (in leicht veränderter Form) erstmals vor über 20 Jahren, am 18.03.2003, auf "Sigis Rad-Seiten" veröffentlicht (http://home.allgaeu.org/sleinfel/Rad-Seiten/sigis-rad-seiten.html, 2016 deaktiviert). Zu dieser Zeit hatte die Firma Bell, traditionsreicher Hersteller von Motorrad-, Motorsport- und Fahrradhelmen, ihren Top-Kopfschützer nach der Schutzpartonin der Radfahrer "Bell Ghisallo" benannt. Und an deren deutschem Importeur GROFA lieferte der Verfasser eine überarbeitete Version des Texts für den GROF Katalog 2004. Als Honorar gab's für den Texter und für den Fotografen je einen Bell Ghisallo! Umsonst fuhren damals mit diesem Helm außer den beiden auch die Profis von Phonak, CSC und Credit Agricole...

 

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Auf der Bautafel kann man erkennen, wie das Museum in den Hang hinein gebaut wurde – und wie klein die Kapelle in Relation zum Museum ist! Von oben her fällt das aber Dank des architektonischen Kunstgriffs überhaupt nicht auf. Am 14. Oktober 2006 wurde das Museum nach fast 7 1/2 Jahren Bauzeit endlich eröffnet.

 

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Links das "Buch zum Museum":

Castelnovi, Giuseppe: Ghisallo - cuore del ciclismo, SEP Editrice, Milano 2006 [im Museumsshop erhältlich]

Viele der hier genannten historischen Details zur Madonna del Ghisallo wurden aus diesem Buch entnommen. Auf 176 DIN-A4-Seiten wird die Geschichte des Museums, der Kapelle und des Anstiegs präsentiert, sowie ein Querschnitt durch die Radsport-Geschichte. Mit sehr vielen interessanten Bildern (fast alle schwarz-weiß und leider meist im Kleinstformat, aber wenigstens ist die Druckqualität ausreichend für's Betrachten mit der Lupe), zudem Palmarès von 40 berühmten Rennfahrern.

 

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"...dann schuf Gott das Fahrrad, damit der Mensch es als ein Instrument der Anstrengung und der Begeisterung auf dem beschwerlichen Weg des Lebens nutzen konnte. Auf diesem Berg wurde es zu einem Denkmal für die sportlichen Heldentaten unseres Volkes, das stets streng in der Tugend und sanft im Opfer war."

Die auf dem Monument dargestellten Räder sind keine nostalgische Interpretation des Künstlers – sie sind zeitgenössisch, denn das Denkmal wurde bereits 1973 errichtet. Derzeit fühlt sich der Autor mehr wie der Radler rechts...

 

 

 

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