Navigation
mondogranfondo.de

 

 

 

m6

 

 

Die Gewichtsfrage: Peter Pan oder Hulk? (22.11.17)

Nach der Quälerei an der Muro di Sormano beim Gran Fondo Il Lombardia stellte sich für mich wieder mal die Frage: Hätte ich mich an dieser extremen Rampe mit einem leichten Rad viel leichter getan? Werbung und Presse behaupten ja oft und gerne, dass ein Rennrad vor allem eins sein muss: leicht! Und mein altgedienter Renner gehört mit 10,5 Kilo (mit Pumpe und Werkzeug, ohne Flaschen) in die Schwergewichtsklasse, die bei Granfondos heute kaum noch besetzt ist. Wieviel schneller hätte mich ein Rad der 7-Kilo-Klasse an der Muro gemacht?

Schon Eddy Merckx wusste: "Der Feind Nummer eins am Berg ist das Gewicht". Tatsächlich sind die physikalischen Zusammenhänge recht einfach. Am Berg wird fast ausschließlich Hubarbeit verrichtet, um die Gesamtmasse von Fahrer und Rad auf die Passhöhe zu "heben".
.

 

 

 

 

Aber wieviel bringt ein leichteres Rad wirklich? Bei näherem Hinsehen und Nachrechnen relativiert sich die Gewichtsfrage. Der durch ein Kilo Mehrgewicht* verursachte Zeitverlust am Berg beträgt für die meisten Fahrer lediglich rund ein Prozent der Berg-Fahrzeit! Das Diagramm rechts zeigt den Zeitverlust, den ein Kilogramm Mehrgewicht am Rad verursacht, abhängig vom Systemgewicht (Fahrer plus Rad plus Ausrüstung) und der Steigung des Anstiegs.

 

Was bringt Leichtbau in der Praxis?

An der 16% steilen Muro di Sormano ergibt sich für mich die folgende Rechnung: Mein Systemgewicht beträgt 87 kg, jedes Kilogramm zuviel bedeutet gut 1,1 % Zeitverlust. Ein drei Kilo leichteres Rad hätte mich 3,4% schneller gemacht. Mit der schnelleren Zeit von 24:20 wäre in der Bergwertung an der Muro Rang 618 statt 633 drin gewesen. Und wenn mich das Gefühl der Leichtigkeit so sehr beflügelt hätte, dass ich ohne Pause durchgefahren wäre, hätte ich zwei Minuten weniger für die Muro gebraucht, dann wäre Platz 593 möglich gewesen.

Trotz des erheblich leichteren Rades wäre ich an der steilen Muro aber nur gerade so dem letzten Siebtel der Rangliste entkommen - für mehr fehlt einfach die Leistung. Dafür wäre ich in den Abfahrten mit einem filigranen "Peter Pan" aber sicher zaghafter gefahren als mit meinem soliden "Hulk", der gibt einfach mehr Vertrauen. Unterm Strich wäre mit einem leichteren Rad natürlich trotzdem eine Verbesserung im Gesamt-Klassement des Gran Fondo Il Lombardia drin gewesen - so ungefähr Platz 641 statt 658...

Etwas besser fällt die Rechnung für die Maratona dles Dolomites 2017 aus: Am steilsten Anstieg brächte mir ein drei Kilo leichterer Renner knapp 3,3% Zeitersparnis. Am Giau wäre ich 2 1/2 Minuten schneller gewesen, in der Summe aller Anstiege wohl ca. 10 Minuten. Damit wäre ungefähr Gesamtplatz 3033 statt 3265 möglich gewesen. Interessant: Bei der Maratona fiele mein Sprung in der Plazierung (7,1%) sehr viel größer aus als die Verbesserung der Zeit (2,1%) - weil meine Leistungsklasse hier stärker vertreten ist (als beim Gran Fondo Il Lombardia) und ich mich noch in einem flacheren Teil der Leistungskurve befinde.

Ob solche Verbesserungen den Kauf eines neuen Rennrads rechtfertigen, muss jeder selbst entscheiden. Aber auch beim Neukauf sollten einem Hobbyfahrer meiner Leistungsklasse ein bergtaugliches Getriebe, nahezu unkaputtbare Laufräder und karbonlose Sicherheit wichtiger sein als ein paar Prozent Zeitgewinn am Berg!

Weiter vorne im Feld schaut die Rechnung natürlich etwas anders aus. Wer um Klassensiege oder zumindest um persönliche Bestzeiten kämpft, sollte sein Material optimieren. An der Muro di Sormano könnte sich ein im Mittelfeld kletternder Teilnehmer des Gran Fondo Il Lombardia, wenn er nur 75 kg Systemgewicht auf die Waage bringt, mit einem ein Kilo leichteren Rad von Rang 360 auf 344 verbessern. Für einen ambitionierten Fahrer ist ein Sprung von fast 5% in der Plazierung natürlich schon eine Hausnummer...

Abgesehen davon nutzen jedoch die wenigsten "Gewichtsfetischisten" wirklich alle Möglichkeiten aus. Wer macht sich schon Gedanken über das Gewicht von Mobiltelefon, Powermeter, Navi, Werkzeug oder Klamotten? Ungeahntes Potential bietet auch ein ausgefeiltes Wasser-Management: Wer aus Gewichtsgründen mit Kompaktkurbel fährt und die Passhöhe mit einer Reserve von nur 0,15 Liter in der Flasche erreicht, hat seinen Gewichtsvorteil gegenüber Dreifach bereits eingebüßt!

 

Wer profitiert vom Leichtbau am meisten?

Im Diagramm ist deutlich erkennbar, wem weniger Gewicht am Rad am meisten bringt: den Leichtgewichten! Dies ist nur logisch - denn bei einem 100-Kilo-Riesen entspricht ein zusätzliches Kilo weniger als einem Prozent des Systemgewichts, beim 50-Kilo-Bergfloh sind es dagegen schon fast zwei Prozent. Wer auch sein Körpergewicht optimiert, profitiert mehr von einem leichteren Rad!

Übrigens ist an steilen Anstiegen (an denen der Luftwiderstand kaum noch eine Rolle spielt) der prozentuale Einfluss des Gewichts nahezu unabhängig vom Leistungsgewicht des Fahrers. An flacheren Anstiegen hingegen profitieren leistungsstärkere Fahrer prozentual weniger (!) vom geringeren Gewicht - weil sie schneller fahren und dadurch der Anteil der Steig- an der Gesamtleistung geringer ausfällt. Am meisten profitiert von einem leichten Rad also ein müder Bergfloh...

Einen zusätzlichen Vorteil bringt geringeres Gewicht selbstverständlich in echten Rennsituationen: wer ständig auf Attacken reagieren muss oder selbst attackieren will, tut sich leichter, wenn dabei geringere Massen zu beschleunigen sind (insbesondere an den Laufrädern). Derartige Situationen spielen jedoch für Hobbyfahrer, die sich in gleichmäßigem Tempo einen langen Anstieg hochquälen, praktisch keine Rolle.

 

Lieber Aerodynamik als Leichtbau!

Bei den Profis (und solchen, die sich dafür halten...) kommt es natürlich auf jedes verbesserungsfähige Promill an. Wirklich leistungsstarke Fahrer erreichen an den meisten Bergen allerdings Geschwindigkeiten, bei denen der Luftwiderstand längst eine sehr viel wichtigere Rolle spielt als ein geringer Gewichtsunterschied. An der Aerodynamik von Rad und Fahrer - vor allem an der Sitzposition! - zu feilen ist dann sehr viel sinnvoller und effektiver als ein paar hundert Gramm am Rad abzuspecken...

 

mgfblog010B01

Zeitverlust-Diagramm [∆t-m-Diagramm, © S. Leinfelder]: zeigt den relativen Zeitverlust/gewinn (bzw. die Geschwindigkeitsänderung), den ein Kilogramm Mehr- oder Mindergewicht* am Rad einbringt.
Die Kurven gelten näherungsweise für einen Radfahrer in Bremsgriffhaltung mit einem System-Leistungsgewicht von 2,5 W/kg (und bei Windstille)
. Bei höherer bzw. geringerer Leistung (und auch bei flacherer oder aufrechterer Position auf dem Rad) weichen die Kurven für die geringeren Steigungen (zwischen 2 und 6 %) nach unten bzw. oben ab, aufgrund des dann größeren Einfluss' des Luftwiderstandes.
Je steiler der Anstieg ist, umso weniger spielt der Luftwiderstand eine Rolle, dann gilt das Diagramm auch für abweichende Sitzpositionen und Leistungsklassen.

 

 

 

Trennbalken3

Faszination Rennrad-Physik

Ein großer Teil der Faszination des Radsports liegt für mich in dem einmaligen Zusammenspiel von Mensch und Maschine. Es ist schier unglaublich, zu welchen Leistungen der Fußgänger Mensch mit Hilfe der genialen, im Grunde doch recht simplen Maschine Fahrrad fähig ist!

Im Detail sind die physikalischen Zusammenhänge vielfältig und oft nicht gleich zu durchschauen. Trotzdem kann man sie - anders als bei vielen anderen technischen Geräten - noch mit Hilfe der Schul-Physik nachvollziehen oder auch selber austesten. Dann macht die Anpassung der Maschine Fahrrad an den "Motor" Mensch außerdem viel mehr Spaß, als wenn man nur einfach die Ratschläge der Experten übernehmen würde.

Aufgrund meiner persönlichen "technischen Vorbelastung" wird sich ein Teil von mondogranfondo.de der Rennrad-Technik widmen, oder genauer: der Rennrad-Physik, mit der sich viele weit verbreitete Rennrad-Mythen entlarven lassen. Die Physik lässt sich - anders als der oft unwissende und manipulierbare Verbraucher - nicht durch Marketing-Sprüche und unsachliche Presseberichte überlisten!

Einer der wenigen kompetenten Journalisten im Bereich Rennrad-Physik ist Robert Kühnen. Der Mann weiß, wovon er schreibt! Seine jüngsten Artikel zu verschiedenen Themen der Rennrad-Physik heben sich wohltuend ab von dem, was sich andere Redakteure mit wenig Ahnung sonst so zusammenreimen.

In seinem neuesten Artikel "Kritische Masse" (Magazin TOUR, Heft 12/2017, Seite 60 ff.) kommt Robert Kühnen für den Einfluss des Gewichts* annähernd zu denselben Ergebnissen wie mgf. Der Muster-Fahrer, mit dem Kühnen rechnet, wäre beim Gran Fondo Il Lombardia übrigens mit dem 7,5-kg-Renner auf Rang 515 gefahren, mit dem 6,5-kg-Leichtrenner auf Rang 504 und mit dem 8-kg-Aerorenner auf Rang 505. Für einen Hobbyfahrer spielen solche Unterschiede nicht wirklich eine Rolle - vor allem dann nicht, wenn er dafür Tausende Euro zusätzlich auf den Tisch blättern muss.

Die Leistung des Muster-Fahrers lag mit ca. 2,4 W/kg Systemgewicht genau im üblichen Granfondo-Mittelfeld. Beim Gran Fondo Il Lombardia war er damit allerdings nicht mehr Durchschnitt, sondern schon fast im letzten Fünftel. Die Muro di Sormano zog offenbar vor allem die leistungsstärkeren Hobbysportler an – bzw. animierte zum kurzzeitigen Abrufen höherer Leistungen... [Nachtrag 28.10.19]

 

* P.S. Der Begriff "Gewicht" wurde auf dieser Seite des einfacheren Verständnisses wegen synonym zu "Masse" verwendet, obwohl natürlich nur letzteres physikalisch korrekt ist. Aber der Normalbürger spricht fast immer vom Gewicht, obwohl er ja eigentlich die Masse meint. Und Eddy Merckx hat ja auch mit dem Gewicht angefangen, nicht mit der Masse...

 

 

 

m5

 

 

(zurück) zur Startseite

Navigation

 

© Siegfried Leinfelder 2017

Impressum / Datenschutz

 

Navigation